„Liberum Veto“: Warum es mit der EU bergab gehen könnte!

Die EU hat einst für wichtigere Entscheidungen das Einstimmigkeitsprinzip eingeführt ! Grund war die staatspolitische Überlegung, wonach die einzelnen EU-Staaten zu einem Kompromiss finden und niemand von der Mehrheit überstimmt werden sollte. Diese Idee basiert unter anderem auf der „Good chap theory of government“ , die vorsieht, dass gesicherte Spielregeln und Sanktionsmöglichkeiten in der Politik eigentlich nicht notwendig sind, weil am Ende ja politische Gentlemen entscheiden würden. Diese würden letztlich in der europäischen Politik auf „Fair Play“ achten und sich bei Konflikten eher nobel zurückziehen, anstatt das politische Gegenüber zu demütigen. Eine graue Theorie, die aber noch nie länger den Praxistest bestanden hat.

Die politische Praxis in der EU und in Europa ist jedenfalls eine andere. Spätestens mit der Aufnahme osteuropäischer und südeuropäischer Länder hat sich die politische Kultur in der EU nämlich verändert. Weg von angelsächsischen Prinzipien und der Dominanz der deutsch-französischen Achse hin zum politischen Geschachere des „Quid pro quo“. Die Zeiten der gegenseitigen Rücksichtnahme zur Gesichtswahrung bei Abstimmungen unter dem Einstimmigkeitsprinzip sind Geschichte. Ungarns Premier Viktor Orban hat sich etwa ganz schamlos seine Zustimmung zur Aufnahme von Ukraine-Beitrittsgesprächen der EU mit der Freigabe von 10 Mrd. Euro an EU-Geldern für Ungarn abkaufen lassen. Auch Polens einstige graue Eminenz Jaroslaw Kaczynski oder – von außen – Türkeis Recep Rayyip Erdogan haben sich lange jeden Kompromiss mit der EU teuer bezahlen lassen.

Wirft man einen Blick in die Politgeschichte, dann lässt einen diese – politisch völlig erwartbare – Entwicklung in der EU auf nichts Gutes schließen. Das „Liberum Veto„, ein politisches Einspruchsrecht, welches Einstimmigkeit erzwang, hat nämlich schon einmal ein europäisches nationsübergreifendes Reich vernichtet, nämlich die Adelsrepublik Polen-Litauen (1385-1791) ! Dort hatte jeder Abgeordnete ab dem 17. Jahrhundert einst das Recht Entscheidungen im Adelsparlament Sejm mit seinen Einsprüchen zu blockieren, da viele Entscheidungen einstimmig erfolgen mussten. Folge war letztendlich die völlige politische Paralyse Polen-Litauens und am Ende dessen politische Aufteilung durch Preußen, Russland und Österreich.

Das Einstimmigkeitsprinzip in der EU

Das Einstimmigkeitsprinzip in der Europäischen Union (EU) ist ein grundlegendes Prinzip, das die Entscheidungsfindung innerhalb der EU beeinflusst. Gemäß diesem Prinzip müssen alle Mitgliedstaaten einer Entscheidung zustimmen, damit sie angenommen wird. Das Einstimmigkeitsprinzip gilt aber NICHT in allen politischen Fragen, sondern ist in verschiedenen Bereichen der EU von Bedeutung, insbesondere wenn es um wichtige politische, wirtschaftliche und institutionelle Angelegenheiten geht, also um die wirklich großen politischen Fragen! Beispielsweise ist für die Annahme von Verträgen, die Änderungen von EU-Verträgen oder die Erweiterung der EU das einstimmige Einverständnis aller Mitgliedstaaten erforderlich. Dies stellt sicher, dass Entscheidungen nicht gegen den Willen eines einzelnen Landes getroffen werden können und dass die Souveränität jedes Mitglieds respektiert wird.

Die Anwendung des Einstimmigkeitsprinzips hat stets Herausforderungen mit sich gebracht. In der Praxis kann es nämlich schwierig sein, eine Einigung zu erzielen, wenn die Interessen der Mitgliedstaaten auseinandergehen. Dies kann zu Verzögerungen bei der Umsetzung wichtiger Maßnahmen führen und die Effizienz der Entscheidungsprozesse in der EU beeinträchtigen. Um die Handlungsfähigkeit der EU zu stärken, wurde daher in vielen weniger relevanten Bereichen das Mehrheitsprinzip eingeführt, bei dem eine Mehrheit der Mitgliedstaaten ausreicht, um eine Entscheidung zu treffen. Eine Verschärfung davon – die sogenannte qualifizierte Mehrheit – sieht vor, dass mindestens 55 % der Mitgliedstaaten und 65 % der EU-Bevölkerung hinter einer Entscheidung stehen müssen. Diese ermöglicht eine schnellere und flexiblere Reaktion auf aktuelle Herausforderungen. Somit hat der EU-Rat drei Entscheidungsprinzipien: Einstimmigkeit, Mehrheitsprinzip und qualifizierte Mehrheit! Dennoch bleibt das Einstimmigkeitsprinzip ein zentrales Element der EU-Struktur, weil es in den wichtigsten Fragen die gleichberechtigte Beteiligung aller Mitgliedstaaten sicherstellen soll.

Altstadt von Krakau

Das „Liberum“ Veto in Polen-Litauen: Die Adelsanarchie

In der Adelsrepublik Polen-Litauen (1569-1795) regierte ein Parlament polnischer und litauischer Adeliger mit einem Wahlkönig den Unionsstaat, bestehend aus dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen. Die Union der beiden Länder lässt sich gar auf das Jahr 1386 zurückführen. In diesem Reich hatte sich über die Jahrhunderte sukzessive eine Rechtspraxis entwickelt, die zunächst Einsprüche einer Minderheit und am Ende sogar Einsprüche eines Abgeordneten zum Anlass nahm, politische Blockaden im Sejm, dem Adelsparlament, zu erwirken. Sukzessive wurde das sogenannte „Liberum Veto“ von Adelsfamilien als wichtiges politisches Instrument im Kampf gegen den Wahlkönig und die polnisch-littauische Exekutive angesehen. Man schützte die eigenen Interessen und behinderte Reformen. Reichstage wurden ab dann als „zerrissen“ und damit beendet und als unerledigt betrachtet, sobald ein Abgeordneter Einspruch erhob oder sogar nur abreiste. Einige Zeit hatte man sich mit Gewalt und Überredungskunst gegen diese Praxis gewehrt, aber physische Abwesenheit setzte diesen Spielchen Grenzen.

Damit konnten selbst kleinste Adelsfamilien politische Reformen verhindern und ihre wirtschaftlichen Pfründe auf Kosten des geschwächten Staates ausbauen. Das realisierte natürlich auch das politische Ausland und so „kauften“ sich Preußen, ebenso wie Russen und Franzosen relativ günstig völlige politische Blockaden in ihrem Nachbarland, etwa indem sie einen Abgeordneten günstig stimmten, Initiativen zu blockieren. Damit stürzten sie das Land schließlich aber in die Unregierbarkeit. Das kontinuierliche Scheitern der Reichstage förderte zudem auch Amtsmissbrauch und die Ausplünderung des Landes, denn niemand musste vor blockierten Reichstagen mehr Rechenschaft ablegen!

Nachdem den meisten Polen klar geworden war, dass diese Praxis das politische Ende für Polen besiegeln würde, machte man sich an die Reform. Diese wurde am Ende dann aber von den Nachbarländern sogar mit teils militärischen Interventionen hintertrieben. Schließlich profitierten Preußen, Russen wie Österreicher von der selbst gewählten polnischen Paralyse. Nachdem der polnische Sejm nach der ersten Teilung Polens 1791 in der Not das Mehrheitsprinzip einführte, begann ein weiterer Krieg mit Russland. An dessen Ende 1795 hörte Polen-Litauen dann auf als Staat zu existieren !

Das Einstimmkeitsprinzip der EU in der politischen Praxis

Der Krieg in der Ukraine hat jüngst einmal mehr demonstriert, was es bedeutet, wenn putin-freundliche Premierminister innerhalb der EU außenpolitische Richtungsentscheidungen hintertreiben. Aber auch der Krieg gegen die Hamas im Gaza-Streifen hat gezeigt, dass die EU bei zentralen außenpolitischen wie unionspolitischen Fragestellungen sehr leicht in einer Blockade landen kann. Vor allem wenn es ums liebe Geld geht, wird künftig die Entscheidungsfindung in der EU wohl immer schwieriger werden! Eine drohende teilweise Paralyse der Europäischen Union steht im Raum, verbunden mit einem weiteren geopolitischen Machtverlust gegenüber autokratischen Diktaturen wie China, Russland oder jenen aus dem arabischen Raum!

Freilich werden aber zumindest seit 2017 (so lange dauerte die Implementierung dieser Reform) rund 80% der Entscheidungen des EU-Rats nach dem Prinzip der qualifizierten Mehrheit getroffen. Eine Sperrminorität im Rat ist dann erreicht, wenn sich mindestens 4 Staaten, die zusammen mehr als 35 % der Bevölkerung in der EU repräsentieren, gegen einen Beschluss stellen (diese Regelung wurde eingeführt, um den 3 großen Staaten wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien nicht zu viel Vetomacht zu geben). Das Prinzip der qualifizierten Mehrheit macht die Entscheidungsfindung in zumindest 4 von 5 EU-Entscheidungen also deutlich einfacher. Freilich gibt es bei den verbleibenden 20 % der Entscheidungen aber immer noch genügend wichtige mit Einstimmigkeitsprinzip, wo man sich dann politisch Entscheidungen a la Orban milliardenschwer abkaufen lassen kann.

Fazit

Vergleicht man die Parallelen des „Liberum Veto“ und des Einstimmigkeitsprinzips der EU, dann tun sich mehr negative Parallelen auf, als man sich wünschen würde. Wenn Ungarns Premier Viktor Orban etwa Finanzhilfen für die Ukraine hintertreibt, um Russlands Präsidenten Putin zu gefallen, dann agiert er ganz so wie mit Zarengeld gekaufte polnische Magnatenfamilien im einstigen Polen-Litauen. Putin braucht also nur einen ihm gewogenen Premier in den Reihen der EU-27, um so essentielle Teile der EU-Außen- und Sicherheitspolitik zu blockieren. Die EU wird in der Folge als geopolitischer Akteur der Lächerlichkeit preisgegeben. Wer sollte denn eine Union ernst nehmen, in der dann künftig die Stimme des 700.000 Einwohnerlandes Montenegro ausreichen würde, um eine Union mit 400 Mio. Einwohnern außenpolitisch zu blockieren.

Die andere Folge ist natürlich die Korruption auf höchster Ebene ! Wie lange sollen die EU-Nettozahler politisch Lust auf eine Union haben, die sich die Stimmen eines 10.-Mio.-Einwohner Landes wie Ungarn mit Milliardensubventionen erkaufen muss, um überhaupt geopolitisch handlungsfähig zu bleiben? Welch ein Wahnsinn wäre erst eine Erweiterung um die zerstrittenen Kleinstaaten des Balkans oder gar um die Türkei, was dann Entscheidungen Europas von politischen Spielchen in Ankara oder Podgorica abhängig machen würde! In der „Presse“ zog Michael Larcynski deshalb folgendes Resümee:

Da eine liberale Zeitenwende nicht in Sicht ist, werden die nächsten Jahre wohl oder übel ruppiger werden. Die EU-Mitglieder werden sich darauf einstellen müssen, manche Entscheidungen außerhalb der Unionsstrukturen zu treffen, um die Spielräume für Erpresser klein zu halten.

Michael Lacynski, zitiert nach „Die Presse“ vom 15.12.2024: S. 2

Notwendig wäre also die 100%ige Einführung des Prinzips der einfachen Mehrheit oder zumindest der qualifizierten Mehrheit bei allen Abstimmungen im EU-Rat. Dann müssten nämlich politische Quertreiber wie Orban zumindest eine Allianz an Staaten organisieren, die 35% der EU-Bevölkerung repräsentiert, um Mehrheitsentscheidungen nach dem Prinzip der qualifizierten Mehrheit zu Fall zu bringen. Eine politische Zweierallianz a la Orban-Kaczynski würde dann nicht länger für Blockaden der EU ausreichen und diese geopolitisch vorführen !

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Links & Quellen

https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-europalexikon/177216/qualifizierte-mehrheit/