Ist die Neutralität in Österreich noch zeitgemäß?

Im Zuge der jüngsten Ereignisse um den Krieg in der Ukraine ist hierzulande eine Debatte um die österreichische Neutralität ausgebrochen. Da gingen etwa die Wogen hoch als Bundeskanzler Nehammer freimütig bekannte, dass die (mittlerweile geliebte) Neutralität Österreich einst aufgezwungen wurde. Als Österreich dann nichtmilitärische Hilfsgüter in die Ukraine entsandte, empörten sich Politkommentatoren wie Gerald Grosz, Peter Westenthaler oder auch viele Linke über vermeintliche eklatante Verletzungen der österreichischen Neutralität.

Gleichzeitig ist aber auch das Lager jener angewachsen, die nicht länger Österreichs Rolle als sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer akzeptieren wollen. Umgeben von NATO-Staaten hat Österreich ja sein Bundesheer jahrelang dahinrosten lassen. Anders als die Schweiz war man nie militärisch souverän in seiner Neutralität. Jahrelang wurde etwa diskutiert, ob man nicht NATO-Streitkräften die militärische Luftraumüberwachung überlassen sollte, weil die von der SPÖ beschafften Second-Hand-Eurofighter langsam in die Jahre kommen. In einem Artikel zur österreichischen Neutralität urteilte das Profil deshalb folgendermaßen:

Die Neutralität ist Staatsdoktrin, verschaffte uns in Europa aber auch den Status eines Sonderlings. Doch das Inseldasein könnte bald ein Ende haben. Der Überfall von Putin-Russland auf die Ukraine reiht die Prioritäten neu.

https://www.profil.at/oesterreich/die-neutralitaet-oesterreichs-das-ende-der-bequemlichkeit/401937223

Manche Politiker sehen dies anders und argumentieren dagegen gerne populistisch:

Die Neutralität stärkt als Eckpfeiler der österreichischen Außenpolitik unsere Sicherheit

Pamela Rendi-Wagner; Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000133876974/politische-debatte-ueber-neutralitaet-in-oesterreich

In diesem Artikel wollen wir nun einen Blick auf die Neutralität im Wandel der Zeiten werfen! Dabei soll die Frage erörtert werden welche Relevanz die Neutralität heute überhaupt noch hat.

Die Neutralität in Österreich

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Österreich wie Deutschland von den vier Besatzungsmächten zehn Jahre lang militärisch besetzt. Da die Sowjetunion seit dem Ende der 1940er Jahre im Zuge des Kalten Krieges immer stärker in den Konflikt mit den Westmächten unter der Führung der USA geriet, bestand in Moskau Interesse an einer Neutralisierung Mitteleuropas. Nach Stalins Tod wurde die Idee der Neutralität Deutschlands und Österreichs von der Sowjetführung an die beiden Ländern herangetragen. Während Adenauer diese (und damit die deutsche Einheit) ablehnte, um Deutschland ideologisch stärker im Westen zu verankern, waren die Österreicher flexibler und zu Verhandlungen bereit. In den Verhandlungen zum österreichischen Staatsvertrag stimmte die Sowjetunion dann unter dem Vorbehalt der „immerwährenden Neutralität Österreichs nach Schweizer Muster“ der Unabhängigkeit Österreichs zu. Verankert wurde dies im Neutralitätsgesetz am 26. Oktober 1955.

Die Sowjets sahen die Situtation pragmatisch: Nach dem BRD-Modell hätten sie ein Viertel Österreichs bekommen , die NATO drei Viertel . Deshalb strebten sie nach einer vollen Neutralisierung Mitteleuropas.

Gedacht als notwendiges Zugeständnis an die Sowjets und politisch nie wirklich ernst genommen, wurde die Neutralität im Volk ungemein populär. Andere mögen Kriege führen, aber du glückliches Österreich sei neutral und mache Geschäfte. Zur Popularität verhalfen auch hochrangige sowjetisch-amerikanische Treffen (Kennedy/Chruschtschow & Carter/Breschnew) auf neutralem (sic!) österreichischen Boden und der Handel mit beiden Blöcken. Mit günstigem sowjetischen Gas wurden österreichische Fabriken befeuert, die dann hochwertige Güter in alle Welt exportieren konnten.

Die militärische Rüstung Österreichs war hingegen immer beschränkt und man spekulierte sicherheitspolitisch im Falle eines sowjetischen Angriffs mit einer Rücknahme der österreichischen Truppen in die Alpen und Militärhilfe von der NATO. Im Kriegsfalle wäre die österreichische Neutralität für die Sowjetunion nämlich nichts wert gewesen. Laut den mittlerweile bekannten Planspielen des Warschauer Paktes hätte die ungarische Volksarmee Österreichs Verteidigungen ohne Rücksicht auf Verluste überrennen sollen.

Vorbehalte gegen die Neutralität 1955

Im Jahr 1955 war die Neutralität bei weitem nicht so populär wie heute, wo sie enorme Zustimmungsraten in der Bevölkerung genießt. Damalige Politiker (etwa aus dem dritten Lager aber bei weitem nicht nur) sahen die Neutralität durchaus kritisch, da sie eine emotionale und politische Verbundenheit mit Deutschland und der Schweiz im Rahmen der „deutschen Schicksalsgemeinschaft“ betonten. Das ähnelt der Argumentation heute, nur dass es heutzutage um die westliche und demokratische Wertegemeinschaft geht, weil der politische Horizont Österreichs in 70 Jahren natürlich gewachsen ist. Nun genießen auch fernere Länder wie die Ukraine unsere demokratische Solidarität und Verbundenheit und nicht länger nur unsere kulturell eng verbundenen deutschsprachigen Nachbarländer.

Die österreichischen Verhandler verhinderten 1955 klugerweise eine Erwähnung im Staatsvertrag, sodass Österreich nie rechenschaftspflichtig zu seiner Neutralitätspolitik wurde. Stattdessen erklärte man diese einseitig. Politisch zog man sich weiters insofern aus der Schlinge, als dass man die Diktion „Neutralität nach dem Muster der Schweiz“ verwendete, was auf eine militärische aber keine (!) politische Neutralität hinauslief. Somit vermied Österreich eine echte Blockfreiheit und blieb Teil der westlichen Welt, nur militärisch war man eben neutral.

Wirtschaftlich sprach man sich in der Folge lange gegen einen Beitritt zu den europäischen Gemeinschaften aus, weil man wirtschaftlich flexibel sein wollte, einen Beitritt als unvereinbar mit der Neutralität erachtete und wohl auch negative Reaktionen der Sowjetunion befürchtete.

Juni 1979: Jimmy Carter (l.) und Leonid Breschnew (r.) vor der SALT-II-Vertragsunterzeichnung in der Wiener Hofburg; Quelle: https://noe.orf.at/v2/news/stories/2981398/

Mythos Kreisky und die vermeintlich (!) „goldene Zeit“ des neutralen Österreichs

Rechts- wie Linkspopulisten (von Gerald Grosz über Peter Westenthaler bis zu Pamela Rendi-Wagner) waren schnell dabei nach Ausbruch des Krieges Friedensverhandlungen zu fordern und zwar in Österreich. Österreich solle neutral agieren und dann wie beim Iran-Atomabkommen die Bühne für Friedensverhandlungen bieten. Dabei wird gerne der Mythos Kreisky ausgepackt, als Österreich auf der Weltbühne einst „so groß mitgespielt“ hat.

Diese freiheitliche, linke und sozialdemokratische Verklärung der Ära Kreisky hält einer nüchternen Betrachtung der Geschichte aber idR nicht stand. Ausgenommen vielleicht der SALT-II Gipfel von Carter & Breschnew. Ansonsten war Kreiskys Österreich leider oft der politische Hafen für autoritäre Herrscher, die außenpolitische Legitimierung suchten. Der Jude Kreisky verteilte dabei diplomatische Feigenblätter an so manchem arabischen judenhassenden Diktator und Terroristen: Treffen mit Gaddafi und Arafat sorgten für internationales Aufsehen. Allerdings nicht im positiven Sinne, waren doch beide letztlich Mörder mit Blut an ihren Händen. Kreisky forcierte die internationale Anerkennung der PLO und trieb Österreich damit auch ins Fadenkreuz von Islamisten, die keine politische Lösung wollten. Der Historiker Thomas Riegler urteilt darüber folgendermaßen:

Österreich geriet ins Fadenkreuz jener Gruppen, die an keinem friedlichen Ausgleich interessiert waren. Hier ist vor allem Abu Nidal zu nennen, der von Staaten wie Syrien, Irak und Libyen unterstützt wurde. Seine Gruppe Al Assifa verübte in den 1980er Jahren zahlreiche Anschläge in Österreich: 1981 wurden in Wien der Stadtrat Heinz Nittel erschossen und die Synagoge angegriffen. Vier Jahre später kam es zum Terrorakt auf dem Flughafen Schwechat.

https://sciencev2.orf.at/stories/1666934/index.html

Kreisky lud zudem 1977 Ali Hassan Salameh, den „Roten Prinzen“ zu einem Gespräch nach Wien. Salameh galt als palästinensischer Top-Terrorist, verantwortlich für die Geiselnahme und Ermordung von israelischen Sportlern in München 1972. 1982 empfing Kreisky den libyschen Staatschef Gaddafi, als dieser als „gefährlichster Mann der Welt“ galt.

In der „guten alte Kreisky-Ära“ war Wien also ein beliebter Besuchsort für Diktatoren und Terroristen!

Die Neutralität heute

Österreich ist seit 1995 EU-Mitglied und hat auch seitdem alle Verträge der EU ratifiziert. Das umfasst unter anderem eine Beistandspflicht im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die im EU Vertrag im Artikel 42 (7) EUV seit 2009 verankert ist. Der Vertrag von Lissabon hält hierzu folgendes fest:

Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.

https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/security/20160119STO10518/eu-bundnisfall-rechtliche-grundlagen-und-praktische-auswirkungen

Der letzte Satz ist ein Zugeständnis an bündnisfreie und neutrale Länder wie Österreich, ändert aber wohl wenig an der Realpolitik eines Krieges. Österreich könnte sich zwar eventuell einer militärischen Unterstützungsleistung mit Verweis auf die Neutralitätsbestimmungen rechtlich entziehen, realpolitisch ist aber im Falle des Falles wohl unzweifelhaft (militärische) Solidarität angesagt. Der Europarechtsexperte Franz Leidenmühler urteilt im Standard deshalb folgendermaßen:

Wir sind bereits Mitglied in einem Militärbündnis.

Franz Leidenmühler: https://www.derstandard.at/story/2000134099842/wie-sehr-uns-die-eu-beistandspflicht-wirklich-schuetzt

Die Beistandspflicht der EU ist zudem Teil einer österreichischen Verfassungsbestimmung (siehe Art. 23j des BVG). Titel V Kapital 2 umfasst die EU-Beistandsverpflichtung nach Art 42 Abs. 7 EUV. Verfassungsrechtlich bekennen wir uns also wohl zur Neutralität wie zur Beistandspflicht gemäß des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon (EUV). Realpolitisch ist aber wie gesagt nur schwer vorstellbar, dass sich Österreich bei einem Angriff auf ein EU-Land auf seine Neutralität zurückzieht und keinen Beistand leistet. Das wäre in einem Konflikt, der Österreich wohl ebenso betrifft (Angriff auf die EU / den Westen), auch völlig kontraproduktiv.

Post Ukraine: Welchen Wert hat die Neutralität

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat zur Folge, dass nun sogar die EU Waffen an die Ukraine liefert. Dafür stehen laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 450 Millionen Euro an EU-Geldern zur Verfügung. Bezahlt werden die Waffen aus einem EU-Sonderfond mit dem Titel Europäische Friedensfazilität. Diese EU-Mittel werden generell primär von den Nettozahler-Ländern aufgebracht, weil diese Länder mehr zum Brüsseler Haushalt beitragen als die Nettoempfänger. Einer der größten Nettozahler pro Kopf ist Österreich, weshalb nun natürlich letztlich österreichisches Steuergeld mit dazu verwendet wird, um Waffen für die Ukraine anzukaufen. Diese Feststellung dient nur zur Veranschaulichung der Tatsache, dass wir nicht länger neutral sind, wenn gemäß EU-Plan mit unseren Geldern Panzerabwehrwaffen, Flugabwehrwaffen und Munition angekauft und in ein Kriegsgebiet geliefert werden.

In Anbetracht aggressiver autokratisch regierter Länder, die dem Westen gegenüber feindlich eingestellt sind, wird die rot-weiß-rote Neutralität auch immer unzeitgemäßer. Wenn China den Westen angreift, dann wird auch Österreich betroffen sein. Dasselbe gilt wenn Russland nun nach der Ukraine in Polen oder Litauen einmarschieren sollte. Angesichts der Tatsache, dass die Demokratie unter dem Ansturm autoritärer Regime weltweit auf dem Rückzug ist, sind zudem alle westlichen Demokratien aufgerufen zusammenzustehen. Und die meisten europäischen tun es ja auch militärisch: 21 von 27 EU-Staaten sind NATO-Mitglieder. In Skandinavien dürften mit Schweden und Finnland bald wohl zwei weitere dazukommen!

Ohne die USA als Arsenal der freien Welt würde aber trotzdem heute wenig militärisch funktionieren. Sie stellen nicht nur die Logistik und militärische Hardware sowie eine effektive, trainierte Armee als Rückgrat der westlichen Verteidigung zur Verfügung, sondern bieten auch die ultimative Abschreckung: Den atomaren Schutzschirm vor Autokraten wie Putin, der die atomare Drohung im Rahmen des Ukrainekrieges aus seiner Mottenkiste wieder auspacken musste, nachdem sich seine Armeen in der Ukraine rasch festgefahren hatten.

Fazit

Österreich ist also seit dem EU-Beitritt 1995 nicht mehr politisch neutral und seit der Verabschiedung der Beistandspflicht im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU auch militärisch nicht länger neutral. Und das ist gut so wie der Krieg in der Ukraine zeigt, wo auch vormals neutrale Länder wie Schweden, Finnland und die Schweiz eindeutig Farbe bekennen! Sie demonstrieren damit, dass wir in Europa sehr wohl zwischen einem Autokraten wie Putin und seinem Angriffskrieg und der überfallenen Ukraine differenzieren können. Als demokratisches Land sind wir Österreicher natürlich auf der Seite der Ukrainer und nicht auf jener der neuen autokratischen Achse Moskau-Peking!

Lächerlich wird es politisch, wenn Politiker wie Pamela Rendi-Wagner populistisch Dinge zum Besten geben wie „Die Neutralität stärkt als Eckpfeiler der österreichischen Außenpolitik unsere Sicherheit“ . Als ob irgendein feindlich gesinntes Land wie Russland oder China, oder eine Hackergruppe oder eine islamistische Terrorgruppe wie der IS im Falle des Falles auf Österreichs Neutralität auch nur irgendeine Rücksicht nehmen würden. Die Sicherheit Österreichs im Kalten Krieg hat die nukleare Parität zwischem dem Westen und der Sowjetunion gewährleistet und weniger eine einseitige Erklärung Österreichs. Das ändert freilich nichts am falschen politischen Pathos mit dem die rot-weiß-rote Neutralität so gerne aufgeladen wird:

Seien wir stolz auf unsere Neutralität anstatt einem Nato-Beitritt das Wort zu reden.

Dritte Nationalratspräsident Norbert Hofer (FPÖ); Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000133876974/politische-debatte-ueber-neutralitaet-in-oesterreich

Wir haben gute Erfahrungen mit der Neutralität gemacht

Bundespräsident Van der Bellen; Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000133876974/politische-debatte-ueber-neutralitaet-in-oesterreich

Österreich war, ist und wird neutral bleiben

Bundespräsident Karl Nehammer; Quelle: https://kurier.at/politik/inland/nehammer-oesterreich-bleibt-neutral/401929786

Ehrlicher sind da die NEOS:

Rechtlich habe Österreich seine Neutralität durch die unionsrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen der Verträge von Maastricht, Nizza, Amsterdam und Lissabon ohnehin aufgegeben, „auch wenn die Politik wider besseres Wissen Werbung mit ihr macht“

Veit V. Dengler; Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000133876974/politische-debatte-ueber-neutralitaet-in-oesterreich

Die Aufgabe der Neutralität muss übrigens keinen NATO-Beitritt mit sich bringen!

Links & Quellen

Artikel 23j BVG: https://www.ris.bka.gv.at/eli/bgbl/1930/1/A23j/NOR40119812

https://www.derstandard.at/story/2000134099842/wie-sehr-uns-die-eu-beistandspflicht-wirklich-schuetzt

https://www.faz.net/aktuell/politik/eu-liefert-der-ukraine-erstmals-waffen-fuer-450-millionen-euro-17838535.html

https://sciencev2.orf.at/stories/1666934/index.html

https://www.profil.at/oesterreich/die-neutralitaet-oesterreichs-das-ende-der-bequemlichkeit/401937223

https://www.derstandard.at/story/2000133876974/politische-debatte-ueber-neutralitaet-in-oesterreich

https://kurier.at/politik/inland/nehammer-oesterreich-bleibt-neutral/401929786

https://www.derstandard.at/story/2000133876974/politische-debatte-ueber-neutralitaet-in-oesterreich

https://noe.orf.at/v2/news/stories/2981398/

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