
Italien tut sich mit Jannik Sinner – dem neuen Nationalhelden im Tennis – als Land teilweise etwas schwer. Einerseits ist Sinner im Tennis als aktuelle Nummer 2 der ATP Weltrangliste extrem erfolgreich und damit für Italien ein absolutes Aushängeschild, andererseits stammt er aus Südtirol. Genau hier beginnt ein italienisches Spannungsfeld, das weit über den Sport hinausreicht und den geneigten Beobachter tief in die europäische Geschichte und in immer noch bestehende Identitätsfragen führt. Dass ausgerechnet der größte Tennisstar Italiens aus einer Region stammt, deren Identität fast ausschließlich vom deutschen Sprach- und Kulturraum geprägt ist, sorgt bei vielen Italienern für ein gewisses Unbehagen: Man jubelt dem erfolgsverwöhnten Sinner zwar zu, aber seine Herkunft bleibt ein Reizpunkt. Wenn Sinner dann aus sportlichen Gründen 2025 auch noch den Davis Cup absagt und nicht für Italien antritt, sind manche Italiener sofort beleidigt und wittern gleich einen Verrat:
Der Tennisstar hat mit seinem Verzicht auf den Davis-Cup in Italien eine neue Identitätsdebatte entfacht. Es geht um die aus historischen Gründen heikle Frage, ob ein Südtiroler zum Nationalhelden taugt.
Sinners Erfolge spülen nämlich eine schmutzige politische Wahrheit ans Tageslicht: Italien hat Südtirol 1919 wider dem Selbstbestimmungsrecht der Völker gemäß US-Präsident Wilsons 14 Punkten annektiert. Danach hat es jahrzehntelang versucht, kulturellen Genozid an den Südtirolern zu begehen und hat gemeinsam mit Hitler-Deutschland daran gearbeitet, die Südtiroler aus ihrer mehr als 1000-jährigen Heimat zu vertreiben. Das alles geschah nur kurz nachdem die Italiener selbst ihre nationale Einigung erreicht hatten. Lange hatte man in Italien die eigene Zerrissenheit und Unterdrückung durch fremde Mächte beklagt. In Südtirol wurden die Unterdrückten 1919 nun selbst zu Unterdrückern. Gegenüber den einst „imperialistischen“ Österreichern und Russen sind die Italiener in ihrer bis heute gültigen Nationalhymne nämlich unmissverständlich eindeutig, was sie von der unfairen Unterdrückung anderer Nationalitäten halten:
„Weich wie die Binsen
Sind die gekauften Schwerter:
Der österreichische Adler
Hat schon die Federn verloren.
Das Blut Italiens,
Das Blut Polens
Hat er mit dem Kosaken getrunken.
Aber sein Herz ist verbrannt.„
Der „österreichische Adler“ steht hier im „Il Canto degli Italiani“ für die Habsburgerherrschaft über Italiener, Polen und andere Slawen, die „Kosaken“ wiederum stehen für das russische Imperium und deren Unterdrückung der Polen und anderer Nationen. Die Hymne ist also ein Traktat gegen die Unterdrückung von Anderssprachigen und anderen Kulturen. Blöderweise – und das ist nun der Tenor dieses Artikels – stehen die Italiener seit 1919 selbst auf der „falschen imperialistischen Seite“ und tun also das, was sie selbst bis heute hymnisch beklagen.

Ein Nationalheld – aber doch nicht „ganz italienisch“
Dass Italien mit seinem eigenen Tennissuperstar fremdelt, ist schon optisch kein Zufall. Sinner ist blond, deutschsprachig, in Sexten aufgewachsen – in einem Kulturraum, der seit über 1000 Jahren Teil des deutschsprachigen Tirols ist und eben nicht italienisch. Südtirol ist für viele Italiener eine Region, die zwar politisch zu Italien gehört, kulturell jedoch „anders“ ist – und zwar so anders, dass man es im eigenen Nationalbewusstsein nie ganz verarbeitet hat. Dass Italien mit seinem eigenen Tennissuperstar fremdelt, hat aber weniger mit Sinners Aussehen zu tun, als mit der dahinter verborgenen Südtirol-Frage selbst. Die Italiener wissen nämlich im Kern sehr genau, dass Südtirol kulturell, sprachlich und historisch eigentlich nicht zu Italien gehört – und nie dazugehört hat. Italien hat sich die Region mit Gewalt genommen und genau das getan, was italienische Nationalisten im „Il Canto degli Italiani“ im 19. Jahrhundert Frankreich, Österreich und Russland vorgeworfen haben: Die Unterdrückung einer anderen Kultur!
Die italienische Hymne, die aus einem Frust des 19. Jahrhunderts heraus gleich mehrfach gegen Österreich und die deutsche wie französische Fremdherrschaft ansingt, erinnert heute also kurioserweise unfreiwillig daran, wie künstlich die Zugehörigkeit Südtirols ist. Genau indem die Hymne die Fremdherrschaft und Unterdrückung der Italiener von außen beklagt, demonstriert sie, dass Italien 1918 selbst den gleichen unfairen Weg gegangen ist und somit seine eigenen „Werte“ bei der Staatswerdung verraten hat. Die italienische Hymne beinhaltet außerdem bis heute antiösterreichische und antideutsche Aussagen, die wir ihnen nicht vorenhalten wollen (und die naturgemäß auch gegen jemanden wie Jannik Sinner interpretiert werden könnten):
„Von den Alpen bis Sizilien
Überall ist Legnano
Jeder Mann hat von Ferruccio
Das Herz und die Hand
Die Kinder Italiens
Heißen Balilla
Der Klang jeder Kriegstrompete
Ertönte zur Vesper.„
In der Schlacht von Legnano attackierten 1176 n.Chr. weit überlegene italienisch-lombardische Truppen ein deutsches Ritterheer unter Kaiser Friedrich I. Barbarossa und besiegten dieses. Ganz Italien war unter Barbarossa nämlich einst Teil des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Heute besingen die Italiener „Überall ist Legnano“ und implizieren damit wohl ein unschönes Ende für deutschsprachige Eindringlinge „überall“ in Italien. Es geht theatralisch weiter: Jeder Mann solle so sein wie Ferruccio. Francesco Ferrucci war ein italienischer Söldnerführer, der gegen den Habsburger-Kaiser Karl V. kämpfte und in der Schlacht von Gavinana getötet wurde – übrigens unter Mithilfe anderer Italiener in kaiserlichen Diensten.
Ferruccio wird hier also zum antihabsburgisch-antideutschen Märtyrer und damit Helden und Vorbild für alle italienischen Männer stilisiert, auf dass diese dem Märtyrertod im Kampf gegen die deutschsprachigen Invasoren nacheifern. Kommen wir nun weiter zu einem weiteren italienischen Charakter aus der Hymne namens Balilla – „alle Kinder Italiens sollen so heißen“ und wohl auch so sein wie Balilla. Doch wer ist Balilla? Die Antwort überrascht wenig: Ein italienischer Junge, der in Genua Steine auf österreichische Soldaten geworfen hat (!) und der damit 1746 einen Volksaufstand gegen österreichische Soldaten ausgelöst haben soll. In der sizilianischen „Vesper“ 1282 geht es dann zur Abwechslung um Massaker an Franzosen auf Sizilien während eines italienischen Aufstandes. Die italienische Hymne ist also eigentlich ein anti-österreichisches bzw. antihabsburgisches Gesangsstück durch und durch, auch wenn dieses Kuriosium nur wenigen Österreichern bekannt sein dürfte.
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Das italienische Dilemma
Einen so erfolgreichen Tennisspieler wie Jannik Sinner hatte Italien noch nie. Gerade hat der 24-Jährige die ATP-Finals in Turin gewonnen. Dazu triumphierte die derzeitige Weltrangnummer 2 im vergangenen Sommer in Wimbledon und hat in ihrer Karriere vier Grand-Slam-Turniere gewonnen. Im sonst so auf Fussball und Motorsport fokussierten Italien ist er deshalb zum umjubelten Idol geworden. Und er hat in seinem Land einen wahren Boom des weissen Sports ausgelöst.
Hier treffen nun also zwei Realitäten zusammen: Jene des Sportidols Jannik Sinner und jene der italienischen Staatlichkeit, die in seinen Symbolen wie der Hymne und seiner nationalen Geschichte antiösterreichisch und antideutsch gepolt ist. Wenn die Hymne heute gesungen wird, erinnert sie unfreiwillig daran, dass dieser Landstrich kulturell nie italienisch war, sondern gewaltsam „italienisiert“ worden ist. Aus dieser Perspektive heraus wirkt es fast ironisch, dass gerade ein deutschsprachiger Südtiroler zur Ikone des italienischen Sports geworden ist. Für viele Italiener ist Sinner aber natürlich trotzdem eine Identifikationsfigur – aber eine, die neben der Begeisterung ihre eigenen historischen Komplexe offenlegt. Der bekannte italienische TV-Star Bruno Vespa lästerte deswegen:
Warum sollte ein Italiener ein Fan von Sinner sein? Er spricht Deutsch (richtig, das ist seine Muttersprache), er wohnt in Monte-Carlo und er weigert sich, für die Nationalmannschaft zu spielen
https://www.sportnews.bz/artikel/tennis/tv-star-laestert-ueber-sinner-und-blamiert-sich-selbst

Südtirol: Ein Land, das sich der italienischen Assimilation entzogen hat
Wer die heutigen Verhältnisse in Südtirol betrachtet, erkennt schnell, wie wenig die Region mit „klassischem Italien“ zu tun hat. Trotz jahrzehntelanger Italianisierungspolitik in der Zeit des Faschismus und trotz massiver gesteuerter Zuwanderung italienischer Arbeitskräfte nach 1919 ist der demografische Trend seit Jahrzehnten in der Regel eindeutig:
- Die deutschsprachige Mehrheit hält sich in Relation zu den Italienern seit Jahrzehnten
- Die italienische Bevölkerungsgruppe sinkt seit 1961 kontinuierlich (34%->22%)
- Ladiner halten ihre Sprache erfolgreich am Leben.
Dazu hat Italien seine Verbrechen an den Volksgruppen nie ganz eingestanden, faschistische Denkmäler nicht abgebaut und das historische Südtirol sogar auf drei Provinzen aufgesplittet – alles in der Hoffnung, deren Assimilierung zu erzwingen. Politisch und wirtschaftlich hat Südtirol aber dank der Schützenhilfe aus Österreich und Deutschland und auch dank der „Südtirolterroristen“, der sogenannten „Bumser“ und dem breiten Widerstand in der Bevölkerung längst seine eigenen Wege gefunden. Die Italien abgezwungene „Autonomie“ sorgt heute dafür, dass rund 90 Prozent der Steuereinnahmen im Land bleiben – ein Wert, der in Italien einzigartig ist. Praktisch bedeutet das: Südtirol finanziert sich großteils selbst, verwaltet Schulen, Krankenhäuser, Infrastruktur und Kulturpolitik autonom und hat mit Rom nur mehr begrenzte Berührungspunkte.
Südtirol (von Italien in faschistischer Ära zu „Alto Adige“ verballhornt) ist heute eines der reichsten Gebiete Europas, während der italienische Staat in vielen Regionen strukturell schwach, hochverschuldet und politisch fragil ist. Dieser Kontrast macht das Verhältnis zusätzlich kompliziert: Südtirol ist wirtschaftlich erfolgreich – und Italien profitiert kaum davon, weil das Geld nicht nach Rom fließt. Das war freilich der Preis Roms sich Ruhe und Loyalität in Südtirol zu erkaufen. Doch die Bestechung muss nicht ewig funktionieren, Teile der Opposition im Südtiroler Landtag fordern seit Jahren klar:

Ladiner: Auch sie hatten einst wenig Lust auf Italien
Die vergangene Unterdrückung betraf aber nicht nur das klassische deutschsprachige Südtirol, sondern auch das Gebiet der Ladiner. Die Ladiner stellen in Südtirol rund 4 Prozent der Bevölkerung. Sie sind eine sehr interessante Ethnie bzw. Sprachgemeinschaft mit rund 30.000 Sprechern, die jahrhundertelang abgeschieden von anderen in ihren Bergtälern wohnten und hier ihre eigene ladinische Kultur und Sprache pflegten. Das ist zwar eine romanische Sprache, die Ladiner leben aber in einer alpinen Region neben den deutschsprachigen Tirolern, was sie naturgemäß kulturell mitgeprägt hat. In Italien schätzte man diese Eigenständigkeit und kulturelle Besonderheit gar nicht, was etwa bei der Ski-WM in Cortina d’Ampezzo (2021) deutlich wurde, als die Italiener mit venezianischen Masken die Geschichte der Region um Cortina bei der Eröffnung präsentierten. Dabei war Cortina, oder besser gesagt Anpezo, jahrhundertelang ladinischsprachig und politisch Teil Tirols. Die Faschingskultur der Venezianer zum Beispiel könnte nicht ferner vom ladinischen Lebensstil sein!
Vor 1918 war die Region um Cortina in über 1000 Jahren Geschichte nur rund 100 Jahre Teil der venezianischen Republik und anonsten stets Teil des Heiligen Römischen Reiches bzw. Tirols und damit Österreichs. Als österreichische Truppen das 1915-1917 kurz italienisch besetzte Anpezo zurückerobert hatten und Kaiser Karl I. die Stadt Cortina besuchte, wurde er den Ladinern mit großem Jubel begrüßt. Nach Österreichs Kriegsniederlage verlangte die Bevölkerung dann per Gemeinderatsbeschluss und mit den Unterschriften der Familienoberhäupter deren Verbleib bei Tirol und Österreich. Die ladinische Bevölkerung weigerte sich auch in der Folge, sich als Italiener zu bekennen, doch Italien setzte sich letztlich mit Gewalt durch. Sprache und Kultur wurden dann auch hier -analog zu Südtirol- unterdrückt, die Ladiner zur Strafe gleich auf drei Provinzen verteilt, um sie leichter zu italienisieren. Erst 1998 (!) durften die lokalen Ladiner ihren österreichischen Gefallenen des ersten Weltkrieges ein Kriegerdenkmal errichten.

Fazit
Machen wir es für die Italiener also ganz kurz: Würden sie in ihre eigene Nationalgeschichte blicken und ihren eigenen Nationalstaat, ihre Hymne und ihren Gründungsmythos als Nationalstaat ernst nehmen, dann würden sie auch feststellen, dass Südtirol eigentlich nicht zu Italien gehören sollte. Jannik Sinner aber ist und bleibt Südtiroler. Was lehrt uns also die Geschichte? Man sollte nicht mit Gewalt (und viel Geld) an Gebieten, deren Bevölkerung kulturell und sprachlich einer anderen Nationalität angehört, festhalten. Das haben die Habsburger in Italien und am Balkan jahrhundertelang versucht und die Folgen kennen wir – unter anderem resultierte daraus der erste Weltkrieg. Südtirol ist heute stabil, wohlhabend und selbstbewusst. Doch die europäische Geschichte zeigt eines: Identitäten verschwinden nicht, sie werden stärker – besonders dort, wo sie lange unterdrückt worden sind. Rom weiß, dass Südtirol kulturell und historisch ein Fremdkörper im Staatsverband bleiben wird. Viele Südtiroler wissen, dass ihre Autonomie zwar großzügig ist, aber wohl nicht das Ende der Geschichte bleiben wird.
Die Spanier erleben das gerade mit Katalonien und die Engländer werden irgendwann wohl auch Schottland und Nordirland als Teil des Vereinigten Königreiches verlieren. Warum? Weil es in einem demokratischen Europa der Regionen Natur der Sache ist, sich lokal neu zu definieren, während man großflächig ohnehin in der EU zusammenarbeitet. Europa steht an einem Punkt, an dem regionale Selbstbestimmung wieder an Bedeutung gewinnt. Die Italiener haben die Südtiroler Jahrzehnte diskriminiert und unterdrückt und irgendwann werden sie wahrscheinlich dafür die Rechnung präsentiert bekommen. Präsumptive dann, wenn Rom es sich nicht mehr leisten kann, Bozen eine so großzügige finanzielle Sonderstellung zu gewähren. Die Frage, ob Südtirol auf Dauer zu Italien gehören wird, ist also alles andere als geklärt. Im Gegenteil: Südtirol ist ein Lehrbuchbeispiel dafür, dass historische Ungerechtigkeiten irgendwann wieder aufbrechen – und dass kulturelle Zugehörigkeit stärker wirkt als politische Grenzen. Die Südtirolfrage wird Italien also in Zukunft wohl noch weiter beschäftigen.
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