
Christian Stocker, seit März 2025 Bundeskanzler Österreichs und Vorsitzender der ÖVP, hat seine politische Karriere maßgeblich in Wiener Neustadt geprägt. In der zweitgrößten Stadt Niederösterreichs, wo er über Jahrzehnte als Gemeinderat, Vizebürgermeister und Finanzstadtrat aktiv war, entwickelte er eine Fähigkeit, die ihn bis an die Spitze der österreichischen Politik trug, nämlich die Bereitschaft, mit unterschiedlichsten Parteien zu koalieren. Diese Erfahrungen mit sogenannten „bunten Koalitionen“ unter ÖVP-Bürgermeister Schneeberger könnten erklären, wie Stocker die „Zuckerlkoalition“ – die schwarz-rot-pinke Regierung mit SPÖ-Chef Andreas Babler und NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger – zustande brachte. Doch sie werfen auch die Frage auf, ob seine ausgeprägte Kompromissbereitschaft und machtpolitischen Zugeständnisse an Babler und Meinl-Reisinger die ÖVP in eine Position gebracht haben, in der sie mehr gibt, als sie nimmt. Erleidet die ÖVP am Ende das Schicksal der deutschen FDP aufgrund zuvieler linker Kompromisse?
Christian Stocker war in Wiener Neustadt als Stadtparteichef der Architekt der „bunten Koalitionen“, bekam dann aber Klaus Schneeberger von Erwin Pröll als ÖVP-Bürgermeister vorgesetzt. Schneeberger erbte somit Stockers politische Arbeit und dieser blieb dann bis 2025 Vizebürgermeister. Er trat also schon in Wiener Neustadt, wenn gewünscht, politisch zurück und „vermachte“ seinen politischen Erfolg einem anderen, alles zum Wohle der ÖVP wohlgemerkt. Stockers Fähigkeit als Mann des Kompromisses hat ihm auch bereits in der linksliberalen medialen Ecke einiges an Applaus beschert. Das ist für bürgerliche Menschen in der Regel ein kleines Alarmsignal. Freilich ist das in dieser katastrophalen Situation (Budget, Wirtschaft, Migration) – verschuldet von der türkis-grünen Regierung – auch kein schlechtes Signal! Unter seiner Führung als Bundeskanzler müssen nun SPÖ und NEOS Milliarden einsparen, weil die Nehammer-Brunner-Kogler Koalition bei ihrer wichtigsten Aufgabe versagt hat, nämlich dabei, ein stabiles Budget zu übergeben.

Die „bunten Koalitionen“ in Wiener Neustadt: Ein politisches Lehrstück
Wiener Neustadt war für Bundeskanzler Stocker ein politisches Laboratorium. Die Stadt, traditionell eine SPÖ-Hochburg, erlebte unter seiner Mitwirkung als ÖVP-Parteichef und Erster Vizebürgermeister (2015-2025) einen epochalen politischen Wandel, der 2015 in einer historischen Machtübernahme gipfelte: Die ÖVP brach die jahrzehntelange Vorherrschaft der SPÖ und übernahm den Bürgermeister. Entscheidend dafür war primär Stockers Geschick, Koalitionen über ideologische Gräben hinweg zu schmieden, freilich zum Nutzen von Klaus Schneeberger, dem ÖVP Landtagsklubchef, der auf Erwin Prölls Wunsch dann Bürgermeister wurde. Stocker hat derweil in Wiener Neustadt als ÖVP-Stadtparteiobmann gezeigt, dass er bereit war, ungewöhnliche Bündnisse einzugehen, um Mehrheiten zu sichern – mit den Grünen oder kleineren Listen etwa.
Ein markantes Beispiel dafür war die Koalition nach den Gemeinderatswahlen 2015, als die ÖVP unter Stocker mit der FPÖ, den Grünen und sowie den Bürgerlisten „Wir für Wiener Neustadt“ , sowie „Soziales Neustadt“ in der „Bunten Koalition“ zusammenarbeitete, um die SPÖ nach Jahrzehnten in die Opposition zu drängen. Diese „bunte Koalition“ war nicht nur ein pragmatischer Schachzug, sondern auch ein Beweis für Stockers Fähigkeit, unterschiedliche Interessen unter einen Hut zu bringen. Er verstand es, lokale Themen wie Wirtschaftsförderung, Sicherheit, Wohnbau und Infrastruktur so zu verknüpfen, dass sie für alle Partner attraktiv waren – selbst wenn ideologische Differenzen bestanden. Diese Erfahrung prägte seinen Ansatz: In der Kommunalpolitik, so betonte er später, müsse man nach einer „hitzigen Gemeinderatssitzung noch gemeinsam auf ein Bier gehen können“. Pragmatismus wurde Stockers Markenzeichen.
Obwohl die diverse „bunte Koalition“ umstritten war – nicht zuletzt wegen eines eigens geänderten Gemeindewahlgesetzes, das taktisch für die ÖVP erstmals die direkte Bürgermeisterwahl ermöglichte –, zeigte sie Stockers Bereitschaft und Geschick, auch mit schwierigen kleinen heterogenen Partnern zu arbeiten! Diese Flexibilität machte ihn in Wiener Neustadt erfolgreich, sie erzeugte aber auch intern Kritik! Manche in der ÖVP warfen ihm damals vor, zu viele Kompromisse einzugehen und die ÖVP-Identität zu verwässern.

Von der Kommunalpolitik in den Bund: Die Zuckerlkoalition nimmt Form an
Als Stocker Anfang 2025 die Führung der ÖVP übernahm und nach der Nationalratswahl die Regierungsbildung anging, griff er auf seinen Erfahrungsschatz aus seinem Wiener Neustädter Repertoire zurück. Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit der FPÖ und dem ersten Abbruch der Gespräche mit SPÖ und NEOS im Jänner 2025, gelang es Stocker im Februar, die beiden ungleichen Partner Babler und Meinl-Reisinger wieder an einen Tisch zu bringen. Freilich war das Scheitern der FPÖ-ÖVP Koalitionsverhandlungen nicht nur Kickls sonderbarer Taktik, sondern auch Stocker geschuldet:
„Furchtbar“, habe seine Frau zu ihm gesagt, als er die Partei übernahm. Und so seien die Verhandlungen mit der FPÖ dann auch gewesen, meinte der neue Bundeskanzler sinngemäß: Er nannte als symbolische Beispiele „Kleinigkeiten“ wie die Forderung nach Wissenschaft in deutscher Sprache oder die Ablehnung von EU-Fahnen durch die Freiheitlichen.
Das Regierungsprogramm der Zuckerlkoalition „Jetzt das Richtige tun. Für Österreich“ wurde am 27. Februar 2025 präsentiert, und am 3. März wurde die Regierung angelobt. Wie in der Kommunalpolitik setzte der nunmehrige Kanzler und ÖVP-Chef auch im Bund auf den bewährten Konsens anstatt Konfrontation. Als Andi Babler hoch pokerte ließ er ihn offenbar vielfach gewähren. In seiner ersten Regierungserklärung im Nationalrat am 7. März 2025 betonte er: „In Zeiten großer Herausforderungen hat Österreich seine Stärke immer aus dem Konsens der konstruktiven Kräfte gewonnen.“ Doch während Koalitionen auf kommunaler Ebene eher inhaltlich überschaubar sind, stellt die Dreierkoalition im Bund einen politischen Spagat der Sonderklasse dar: SPÖ und NEOS brachten schließlich nicht nur unterschiedliche Wählerklientel, sondern auch sehr konträre programmatische Vorstellungen mit. Die ÖVP dagegen ist für ein Programm gewählt worden – den Österreich-Plan – , das sie eigentlich nur mit der FPÖ umsetzen kann.
Weite Wege und breite Kompromisse
Stockers Kompromissbereitschaft war also wohl der Schlüssel zur Zuckerlkoalition. Er ging „weite Wege“, wie SPÖ-Chef Babler im ORF-Interview am 3. März 2025 lobte, und integrierte sowohl die sozialdemokratischen Forderungen nach sozialer Absicherung als auch die liberalen Reformideen der NEOS. Das Regierungsprogramm spiegelt diese Balance wider: Es enthält Maßnahmen wie einen Transformationsfonds für die Wirtschaft (ein NEOS-Anliegen), eine Bankenabgabe und Mietpreisregulierungen (SPÖ-Wünsche), sowie eine Budgetsanierung ohne neue große Steuern und eine härtere Migrationspolitik (ÖVP-Kernforderung). Doch genau hier beginnen die kritischen Fragen: Hat Stocker politisch zu viel gegeben?
Kritiker innerhalb der ÖVP sehen einen Pakt voller Schwächen. In der Zuckerlkoalition musste die ÖVP etwa auf zentrale politische Positionen verzichten: Während Stocker Bundeskanzler wurde, ging das Vizekanzleramt an Babler, und Meinl-Reisinger erhielt das prestigeträchtige Außenministerium. Die Ministeraufteilung – sechs ÖVP-, sechs SPÖ- und zwei NEOS-Posten – wirkt auf den ersten Blick ausgewogen, doch die SPÖ sicherte sich mit dem Kultur- und Infrastrukturressort, Soziales und Arbeit sowie dem Finanzministerium, dem Justizministerium und dem Wissenschaftsministerium weitaus einflussreichere Positionen. Niemand kann zudem plausibel erklären, warum die ÖVP trotz 250.000 Stimmen und 5% mehr bei der Nationalratswahl, genau gleich viele Regierungsämter wie die SPÖ bekommen hat. Babler nannte das triumphierend „Respekt“ für die SPÖ. Die NEOS wiederum erhielten mit dem Außenministerium einen Posten, der ihre europapolitische Agenda stärkt. Die ÖVP hingegen konzentrierte sich unter Stocker auf „klassische“ Ressorts, wie Inneres und Verteidigung, was Kritiker als harten Verlust an gestalterischer Kraft werteten.
Auch programmatisch gibt es viele Zugeständnisse: Die SPÖ setzte ihre Forderung nach einer Entkopplung der Mietpreise vom Verbraucherpreisindex durch, während die ÖVP ihre Ablehnung neuer Vermögenssteuern nur bedingt verteidigen konnte – der „Transformationsfonds“ wird teilweise über Abgaben von Banken und Energieunternehmen finanziert, ein Kompromiss, der Babler zugeschrieben wird.
Fazit
Christian Stockers Weg von den „bunten Koalitionen“ in Wiener Neustadt zur Zuckerlkoalition zeigt, wie sehr ihn die Kommunalpolitik geprägt hat. Seine Fähigkeit, mit SPÖ und NEOS ein Regierungsbündnis zu schmieden, ist ein Triumph des Pragmatismus – ein Erbe seiner Jahre, in denen er lernte, über den eigenen Schatten zu springen. Doch die Parallelen zu Wiener Neustadt enden dort, wo die Dimensionen des Bundes die Grenzen seiner Strategie aufzeigen. Zu große Kompromissbereitschaft gegenüber Babler und machtpolitische Zugeständnisse bei Posten und Programm könnten die ÖVP mittelfristig in eine defensive Position drängen, während SPÖ und NEOS ihre Agenden klarer durchsetzen. Stocker hat bewiesen, dass er Koalitionen bauen kann – ob er sie auch führen kann, ohne die eigene Partei zu überdehnen, wird die Zukunft zeigen. Für den Moment bleibt das Schmieden der Zuckerlkoalition jedenfalls ein Beweis für seine Wiener Neustädter Lehren.
Die Zuckerlkoalition trägt also unverkennbar Stockers Handschrift. In Wiener Neustadt zahlte sich seine Strategie aus, weil die Stadt überschaubar ist und lokale Themen stets die Ideologie überlagerten. Im Bund jedoch, wo die ÖVP mit FPÖ-Wählern konkurriert und ihr konservatives Profil schärfen muss, könnte seine Kompromissbereitschaft mit einem linken Populisten wie Babler riskant sein. Die FPÖ unter Herbert Kickl nutzte bereits die Regierungserklärung am 7. März bereits, um die Koalition als „Monstrum des Stillstands“ anzugreifen! Dazu warf er Stocker vor, die ÖVP zu einer „SPÖ-light“ zu machen.
Innerparteilich gibt es ebenfalls leisen Unmut: Manche Funktionäre sehen in den Zugeständnissen an Babler – etwa bei der Sozialpolitik – eine Schwächung der ÖVP-Position. Wenn die harte ÖVP-Migrationspolitik wie schon in der Vergangenheit scheitert und die SPÖ viele linke Ideen trotz Budgetkrise durchsetzt, wird sich die ÖVP politisch in einer schwierigen Lage wiederfinden. Garniert mit dem Defizit-Erbe der türkis-grünen Koalition und der Abgabe des Finanzministeriums an die SPÖ könnte die ÖVP politisch zerrieben werden.
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Links & Quellen
https://orf.at/stories/3386570
https://www.derstandard.at/story/3000000259254/wofuer-stocker-babler-und-meinl-reisinger-stehen
https://www.noen.at/in-ausland/stocker-babler-und-meinl-reisinger-betonen-kompromiss-463988572